Tag 22: Vorurteile widerlegen: Check!

6. August 2024

Anjas frischgrüne Sommertour, Tag 22

Im Burgenland ist es nur flach. Das gilt als überregionale Wahrheit und wird kaum mehr irgendwo hinterfragt. Spätestens nach dem heutigen Tag weiß ich aber: Auch das ist nur ein Vorurteil. „Aber ihr habt’s ja keine Berge!“ Stimmt, was wir aber haben und was vielleicht die wenigsten wissen: einen Bergbau. Und wunderschöne Flecken, wo man zumindest glauben möchte, man sei im Gebirge.

Station 1: Schüttkasten Familie Meichenitsch (Bernstein)

Der alte Schüttkasten (Getreidespeicher) von Familie Meichenitsch kommt aus dem Familienbesitz und stammt ursprünglich aus Aigen bei Kirchschlag, wo er im Jahre 1744 hauptsächlich aus Tannen und Lärchen gehackt und gezimmert wurde. 2012 wurde das historische Gebäude unter Mithilfe von Fachleuten Balken für Balken nummeriert, abgetragen und in Bernstein möglichst originalgetreu wiedererrichtet. Heute ist der Schüttkasten ein Ort der Ruhe und Entspannung. Er dient Wanderern am Alp-Pannonia-Weitwanderweg als Übernachtungsmöglichkeit und kann auch als Ferienhaus gemietet werden.

Als ich in die Schlucht eintrete, denke ich: Das kann unmöglich das Burgenland sein. Die Szenerie verströmt ein Flair von Bergbauernwirtschaft. Schafe beweiden eine steile Streuobstwiese in Hanglage (Leihschafe, die im Herbst wieder abgeholt werden). Alles ist naturnah und herrlich ruhig. Ich könnte mir gut vorstellen, hier eine Auszeit zu nehmen, um meine Masterarbeit fertig zu schreiben.

Familie Meichenitsch betreibt den Schüttkasten ohne Marketingkonzept, im Sinne des sanften Tourismus. Es soll nicht zu viel werden. Berührend ist die Begeisterung, mit der die beiden über ihre Gäste sprechen. Hier, so habe ich das Gefühl, ist ausnahmslos jeder Gast König. Wir werden wunderbar bewirtet und verkosten eine am Vortag selbstgemachte Brombeermarmeldade, der Schnittlauch kommt frisch vom Hochbeet und der von Frau Meichenitsch hergestellte Honig ist die süße Krönung unseres Besuchs.

Station 2: Kantine 48 (Bernstein)

Auch im Naturschwimmbad in Bernstein bleibt es paradiesisch. Tommy Diezl führt hier seit vielen Jahren die Kantine 48. Es wird frisch gekocht, mit guten Zutaten. Tommy betreibt die Kantine heuer im letzten Jahr, das finde ich persönlich sehr schade. Tommy ist ein tiefenentspannter Mensch mit zwei verschiedenen Schuhen und zwei verschiedenen Paar Socken in unterschiedlichen Farben. Ich weiß, jetzt trage ich etwas dick auf, aber wo der Tommy geht, hat man das Gefühl, hinter ihm wachsen Blumen, so entspannt ist der. Aktuell ist man auf der Suche nach einer Köchin/einem Koch, könnte also durchaus sein, dass gerade nicht sooo viele Blumen in seiner Spur wachsen. 🙂 Das Essen war jedenfalls außergewöhnlich gut, da wartet man gern!

Station 3: Felsenmuseum Bernstein

Mit einer großen Gruppe besuchen wir das Felsenmuseum Bernstein und auch der ORF stößt im Schaubergwerk für ein Interview kurz dazu. Die gut 1.000 m2 Fläche sind für ein Privatmuseum recht groß. Niko Potsch betreibt das Museum mit seiner Familie. Er erzählt, wie sein Ururgroßvater angeblich den Edelserpentin in Bernstein entdeckt habe. Seitdem gibt es in der Familie Potsch die Tradition, sich bildhauerisch zu betätigen oder im Steinbruch zu arbeiten. Naturgetreue Modelle stellen die verschiedenen Abbaumethoden des Edelserpentins nach, von den ersten Grabungen im Stollen bis zum heutigen Tagebau in modernen Steinbruchanlagen. Auch Mineralien-Raritäten, Kristalle und Edelsteine aus der privaten Sammlung gibt es zu sehen.

Ein Teil des Museums ist dem Wirken einer außergewöhnlichen Künstlerpersönlichkeit gewidmet. Otto Potsch war ein Universaltalent: Edelserpentin-Bildhauer, Maler, Eisenkünstler, Musiker, Bernsteinschleifer und Inklusen-Fotograf. Die Höhepunkte seiner Schaffensperioden gibt es hier zu bewundern. Für Sohn Niko war von vornherein klar, dass er dem Vater schwer das Wasser reichen können wird. Trotzdem hat er sich mit dem Museum etwas wunderbar Eigenes geschaffen, das er mit großer Liebe, Akribie und Begeisterung führt.

Niko erzählt G’schichten vom Vater. Bei einer Ausstellungseröffnung soll einmal wer gesagt haben, der liebe Gott hat eine Tasche, aus der er die Berufe auf die Menschen verteilt. Beim Otto Potsch soll ihm das Sackerl gerissen sein, sodass von allen Berufen, die noch übrig waren, ein bisserl was auf ihn übergegangen ist.

Auch dem Geheimnis der Wunderkugel ist Otto Potsch auf die Schliche gekommen: Wie aus einer Kugel mehrere innenliegende frei bewegliche Kugelschichten herausgearbeitet werden können, ist ursprünglich das Geheimnis einer chinesischen Familie. In mehrmonatiger Arbeit hat der Künstler dann diese Kugeln geschaffen. Niko berichtet, wie er als Kind dem Vater eine dieser aufwendig hergestellten Kugeln reichen wollte, sie versehentlich fallen ließ und der Vater dann nicht einmal geschimpft habe mit ihm. Diesem Vater hat er im Felsenmuseum Bernstein ein würdiges Denkmal gesetzt.

Station 4: Bürgermeisterin Habetler

Mit Bürgermeisterin Renate Habetler treffe ich im Rahmen meiner Tour die erste Frau in diesem Amt. Als Gastgeschenk bekomme ich ein Stoffsackerl, das von Flüchtlinge aus alten Hemden genäht wurde. Im Gegenzug schenke ich der Bürgermeisterin ein Exemplar meines Buches. Heute treffen wir immer nur kurz aufeinander, ich bin mir aber sicher, dass sich bald Gelegenheit bieten wird für ein ausführlicheres Gespräch. Ich freu mich drauf!

Am Ende des Tages stelle ich fest, wie gut es sich anfühlt, Klischees und Vorurteile zu widerlegen. Es lohnt sich immer wieder, Überkommenes neu zu prüfen und auf seine Gültigkeit hin abzuklopfen. Auch das kommt als Notiz auf einen Zettel. Rein damit in die Plaudertasche!