Tag 19: Mitten in der Welt

26. Juli 2024

Anjas frischgrüne Sommertour, Tag 19

Heute geht’s hinauf in den Norden. Nein, nicht nach Grönland, Nickelsdorf reicht auch. Am Ende des Tages werde ich in die Sommertour-Signal-Gruppe schreiben: „Heute war wieder ein großartiger, sehr intensiver Tag. Jetzt bin ich auch sehr, sehr müde.“

Station 1: Beim Bürgermeister von Kittsee

Der Bürgermeister von Kittsee, Johannes Hornek, ist tatsächlich ein Schlossherr. Er hat das Schloss Kittsee, ein doch recht altes Gemäuer, einer neuen Nutzung zugeführt und in ein Gemeindezentrum umgebaut, mit integriertem Wirtshaus. Es soll ein Ort für die Bevölkerung sein, für die Vereine und für Kulturveranstaltungen. Ein bisserl beneide ich den Bürgermeister um seinen wunderschönen Arbeitsplatz, das gebe ich offen und ehrlich zu. Das frühere Gemeindeamt soll in eine Polizeistation verwandelt werden, mit darüberliegenden Sozialwohnungen, für die es in Kittsee Bedarf gibt. 50% der Bevölkerung sind „Neukittseer“, sehr viele davon Menschen aus der Slowakei, weshalb es auch eine slowakische Mitarbeiterin im Team des Bürgermeisters gibt.

Der Bürgermeistern hat ein bisserl was von einem Revoluzzer. Unbeirrt vertritt er seine Meinung und geht seinen Weg und scheint damit auch Erfolg zu haben. Jedenfalls eine ganz neue Art, Bürgermeister zu sein, als wir sie bisher auf unserer Sommertour kennengelernt haben.

Station 2: EWS Consulting Parndorf

Die EWS sieht sich als Unternehmen in der Verantwortung, zur Erhaltung dessen beizutragen, was uns umgibt. Seit 1994 kommen sie dieser Verantwortung leidenschaftlich nach. 6,5% des Stroms in Österreich trägt die Handschrift des Unternehmens. Die EWS berät Unternehmen und Gemeinden sowie Grundbesitzer und Landwirte bei der Verwirklichung von Wind- und/oder (Agri-)PV-Projekten. Agri-Photovoltaik bietet die Möglichkeit, bewirtschaftete Flächen doppelt zu nutzen – für Ackerbau bzw. Grünlandbewirtschaftung und „Stromzucht“ (d. h. Strom vom Feld zu holen).

Als Leuchtturmprojekt betreibt die EWS gemeinsam mit dem Energiepark Bruck und der BOKU das EWS Sonnenfeld in Bruck an der Leitha. Hier wird in den kommenden Jahren daran geforscht, welche Pflanzenkulturen und Bewirtschaftungsformen sich mit einer gleichzeitigen PV-Produktion am besten eignen. Dabei kommen bifaziale PV-Module zum Einsatz, die beidseitig Licht in Strom umwandeln können. Über ein einachsiges System und einen winzigen Motor können sich die Paneele optimal an den Sonnenstand anpassen und so den Ertragt maximieren. Zwischen den Modultischreihen, den sogenannten „Sonnenfängern“, steht ein 9 m breiter Streifen für landwirtschaftliche Nutzung zur Verfügung – ein System, das sehr gut funktioniert.

Würde jede zweite Gemeinde ein EWS Sonnenfeld umsetzen, ließen sich durch den damit erzeugten Solarstrom 17 % de österreichischen Gesamtstromverbrauchs decken. Nur 0,2 ha pro Gemeinde würden für Technik und Anlagenverankerung benötigt.

Die Vision: Erneuerbare verdrängen fossile Energieträger. Jede kWh zählt!

Auch auf die bekannte Frage, was eigentlich mit ausrangierten Windrädern passiert, erhalten wir eine Antwort: Teilweise lassen sich die Rotorblätter recyclen und finden vor allem als Zuschlagstoff in der Betonproduktion oder als Energieressource bei der Zementherstellung Verwendung. Viele Windkraftanlagen werden aber auch abgebaut und nach Osteuropa geliefert, vor allem nach Rumänien, wo sie erneut ihrem Zweck zugeführt werden.

Man merkt schnell, dass ein gutes Klima herrscht unter der Kolleg*innenschaft der EWS. Einmal hat man sogar ein Pommes-Essen unter einer der PV-Anlagen veranstaltet, wo aus den vor Ort geernteten Erdäpfeln Pommes gemacht wurden, um danach im Schatten der Photovoltaik-Module gemeinsam zu feiern. Wer auf solche Ideen kommt und das Leben entsprechend feiert, hat garantiert einen guten Job. Auch in puncto Wertschätzung ist die EWS ein besonderer Ort, wie wir im Gespräch mit einer Mitarbeiterin, einer werdenden Mutter, erfahren.

Station 3: Dorfmuseum Neudorf / Seoski muzej Novo Selo

In Neudorf, Praktikant Leons Heimatgemeinde, werden wir vom Obmann des Museums- und Kulturvereins, Martin Miletich, begrüßt. Alle sprechen hier Burgenlandkroatisch, bis auf den Bürgermeister. Bürgermeister in einer burgenlandkroatischen Gemeinde sein und kein Burgenlandkroatisch sprechen – geht das? Das geht! Karel Lentsch mit Augenzwinkern: „Se hom hoid kan aundan gfunden!“ Wir haben zwar keinen Termin vereinbart, umso mehr hat es mich gefreut, dass Bürgermeister Karel Lentsch spontan vorbeigeschaut hat.

Das Gespräch mit Martin Miletich behandelt vor allem das Thema burgenlandkroatischer Traditionen und leider auch das Aussterben der Burgenlandkroaten im Nordburgenland. Mit dem Museum und dem Kulturverein seien zwar Versuche unternommen worden, dem entgegenzuwirken, trotzdem seien die Aussichten eher düster. Martin Miletich ist mit Leib und Seele Burgenlandkroate. Er hat das Erbe seines Vaters, der das Dorfmuseum ins Leben gerufen hat, übernommen und gedenkt seine Bemühungen weiterhin ambitioniert fortzuführen.

Als Martin uns burgenlandkroatische Hochzeitstrachten vorführt, kommt es zu einer nostalgischen Überschneidung: Auch Leons Eltern haben genau in so einer Tracht geheiratet, inkl. großem Aufgebot damals in Neudorf.

Station 4: Beim Bürgermeister von Nickelsdorf

Überaus herzlich werden wir von Gerhard Zapfl in Nickelsdorf begrüßt. Obwohl er schon ein sehr lang dienender Bürgermeister ist (seit 1996!), sprüht er nur so vor Ideen, die er noch umsetzen möchte. Projekte wie den Regenbogen-Zebrastreifen, einen der wenigen im Burgenland, ich kenne nur drei weitere. Das war doch eine recht strittige Geschichte damals, aber der Bürgermeister hat sich zu helfen gewusst und kurzerhand eine Inderin, eine Ukrainerin, Syrer und den Herrn Pfarrer auf den Zebrastreifen gestellt und ein Foto gemacht, um die Vielfalt im Ort sichtbar zu machen. Ein Spirit, den wir an diesem Tag selbst deutlich spüren. Nickelsdorf ist bunt und offen. Besonders gut gefällt mir die liebevolle Art des Bürgermeisters, Partnerschaften zu pflegen, etwa in Form von entzückenden Geschenken für Partnergemeinden. Auch ich bekomme eine „Anerkennungsurkunde“ für meine Besuch überreicht, für die ich mir zuhause ein schönes Platzerl suchen werden.

Was mir auffällt: Beide Bürgermeister, die ich heute treffe, scheinen kritische Geister innhalb ihrer Parteien zu sein. Und ich glaube, das ist wichtig, dass jede Partei über kritische Geister verfügt und man diese auch wertschätzen sollte. Ich freue mich über das Feedback, das immer wieder an mich herangetragen wird, von Menschen, die meinen Storys folgen und es interessant finden, dass ich Bürgermeister aus anderen Fraktionen besuche, obwohl ich ja dort keine Stimmen holen kann. So etwas sei untypisch. Für mich ist eine wertvolle Erfahrung, mit den Erfolgen und Problemen in den Gemeinden bekannt zu werden und zu sehen, wie unterschiedlich man das Amt des Bürgermeisters auslegen kann. Hier geht’s nicht um Stimmenfang, sondern darum, etwas für die eigene Arbeit mitzunehmen und voneinander zu lernen.

Station 5: „Stodl Schenke“ Nickelsdorf

Die Geschichte des syrischen Brüderpaares dürfte aus den Medien bekannt sein: Luai und Ali Alhussein sind 2015 nach Österreich gekommen, ein ganzes Jahr haben sie damit verbracht, mit Hilfe von Youtube Deutsch zu lernen, dann kam der positive Asylbescheid. Seit 2023 betreiben die Brüder gemeinsam die beliebte Stodl Schenke in Nickelsdorf.

Ich frage Ali nach seiner Lieblingsspeise in der österreichischen Küche. Er grinst verschmitzt und antwortet: „Zwiebelrostbraten.“ Kein Wunder, dass es in dem Gasthaus, dass die beiden Brüder in Kürze zusätzlich zur Stodl Schenke übernehmen werden (das ehemalige „Risa“  in Nickelsdorf), auch Zwiebelrostbraten auf der Karte geben wird. Die spezielle Kombination aus syrischen Spezialitäten, vegetarischer Kost und österreichischer Küche finde ich spannend. Ein großartiges Fattusch und ein zünftiges Grammelschmalzbrot – in der Stodl Schenke kein Problem!

Bezüglich Integration erzählen die Brüder, dass sie sich in Nickelsdorf gut aufgehoben fühlen und deshalb auch etwas zurückgeben wollen. Wie zum Beispiel ein gut funktionierendes Gasthaus.

Ich freue mich, dass auch Bürgermeister Zapfl bis zum Schluss mit uns in der Stodl Schenke bleibt und wir über die EU, Kamala Harris und die bevorstehende Nationalratswahl plaudern. Ein wunderbar lustiger Abend unter großen Bäumen in Nickelsdorf. Was früher die Grenze zum Osten war, vermittelt einem heute das Gefühl, mitten in der Welt zu sein.