Tag 8: Geschichten, die ins Herz gehen

11. Juli 2024

Anjas frischgrüne Sommertour, Tag 8

 

Klubdirektor Gerhard steht auf Navigationssysteme. Offenbar vertraut er ihnen mehr als meiner Ortskenntnis, weshalb es uns heute noch tief in die burgenländische Wildnis verschlagen wird. Aber was soll’s. Gerhard ist Niederösterreicher. Obwohl sein Sohn stolz behauptet: „Mein Papa arbeitet als Eisenstädtler“.

 

 Station 1: Beim „Michl“ in Puindorf

 

Wir starten den heutigen frischgrünen Tour-Tag mit einem Kaffee beim „Michl“ im Zentrum von Oberpullendorf. Auf dem Schild über dem Lokal steht groß „Alles zu seiner Zeit“. Wir fühlen uns bestätigt und plauschen angeregt mit zahlreichen Interessierten. Es geht um Baumpflanzungen am Hauptplatz, Belebungsmaßnahmen in der Innenstadt, Businessparks, Bodenversiegelung, Philip Juranichs Fußballkarriere und – Störche.

„Zwischen St. Martin und Lindgraben soll es vor Jahren sogar einen schwarzen (Storch) gegeben haben.“

Auch die Brückensanierungen in „Puindorf“ sind Thema. Beim Michl sitzen wir ja quasi direkt über dem Stooberbach und da stellt sich die Frage, ob die in den 50er Jahren vorgenommene Verbauung hochwassertauglich ist.

Und wie so oft bei einem gemütlichen Kaffeetscherl, wird auch von damals erzählt, als man noch mit der Holzschutzlasur Xyladecor Profilbretter streichen hat müssen, bevor man ins Freibad gehen durfte. Da piepst mein Handy. Am Display: ein Foto von mir. Das bin eindeutig ich. Vor dem Lokal. In diesem Moment. Von drinnen grinst ein Freund durch die Scheibe, ich scheine ihn im Trubel nicht bemerkt zu haben. Er kommentiert: „Die Kunst des Politikers ist es, sich so im Raum umzuschauen, dass alle sich gesehen fühlen.“

 

Station 2: Schloss Deutschkreuz

 

Dem Navi sei Dank entdecken wir ein Burgenland, das garantiert keiner von uns kennt. Wir cruisen über staubige Güterwege, vorbei an Windradrotoren, die wie riesiges Spielzeug im Feld liegen und auf die Montage warten. Der ortskundige Philip startet einen beherzten Versuch, uns auf bekannten Pfaden nach Deutschkreuz zu manövrieren. Vergebens. Gerhard vertraut unbeirrt auf sein Navi. Und wir vertrauen Gerhard. Wie sich kurz darauf herausstellt: zurecht. Wir parken den Wagen im Schatten eines Baumes an der Zufahrt zum Schloss. Dr. Putz erwartet uns bereits, gemeinsam mit Fedi, die uns heute ebenfalls begleiten wird. Dr. Putz, ein pensionierter Deutsch- und Englisch-Lehrer, bezeichnet sich selbst nicht als Historiker, sondern Heimatkundler. Er interessiere sich für „das alles hier, und vielleicht ein bisschen darüber hinaus.“ Ein bescheidener Mann, dessen Vortrag fesselnd ist. Wir erfahren von der bewegten Geschichte der einstigen Schlossherren, der Nádasdys, einem ungarisch-österreichischen Grafengeschlecht, dem auch die legendäre Blutgräfin Erzsébet angehörte. Die russischen Besatzungssoldaten hätten der Substanz des Schlosses ordentlich zugesetzt, erzählt Dr. Putz, so gut wie alles Holz sei verheizt worden und ganze Dachstühle abgetragen. Gerettet ist es schließlich von einem Künstler geworden. Anton Lehmden hat das Schloss 1966 erworben und Stück für Stück wieder instandgesetzt. Liebe auf den ersten Blick sei es gewesen, als Lehmden zum erste Mal den Innenhof betreten hat und der Arkaden ansichtigen geworden ist. Sein ganzes Vermögen stecke in dem Schloss, das zum Teil als Galerie für die erstaunlichen Werke des Künstlers fungiert. Ich bin hin und weg von der Schaffenskraft des Mannes, der trotz körperlicher Beeinträchtigung so großartig malen konnte. Lehmden habe einmal ein 40 m langes Gemälde angefertig in einem der Schlossräume, kalt soll es gewesen sein, sehr kalt sogar, nur an die 5 Grad soll es gehabt und Lehmden, eingehüllt in einen dicken Mantel und auf die Frage hin, wie er bei dieser Kälte nur malen könne, soll – den schweren Pinsel durch die Luft schwingend – geantwortet haben: „Tschack! Tschack!“

 

Station 3: Synagoge und jüdisches Viertel Kobersdorf

 

Die Zeit drängt und wir beschließen, statt des geplanten Mittagessens nur einen kurzen Snack einzuwerfen. In der Bäckerei Kern gibt’s Toast für Fedi und mich und Gebäck für die Boys, die nicht bemerken, dass es eine Speisekarte gibt. Wir essen, zahlen und gehen. Im Gastgarten der Bäckerei ordert eine coole ältere Dame eine Cherry-Lady. Die hat’s drauf, denke ich im Vorbeigehen. In Kobersdorf gibt es zwei Fleischhauer und keinen Supermarkt, erzählt Fedi. Und Kastl Greissler gibt‘s hier auch einen.  

Vor der Synagoge vibrieren Absperrbänder im Wind. Vor kurzem ist hier Rasen angesetzt worden. Im unmittelbar angrenzenden Fußballstadion zirpen Grillen in der Sonne. Wir warten. Gerhard telefoniert. Dann kommt doch noch Herr Hausensteiner und entschuldigt sich für die aus Eisenstadt herrührende Verwirrung. Herr Hausensteiner trägt eine gagerlgelbe Sonnenbrille bei sich und wartet willig mit der dazugehörigen Geschichte auf: ein Werbegeschenk vom ÖAMTC (Kurzform), eingeheimst beim Radfahren am Neusiedler See. Alle hätten sie dann so eine gagerlgelbe Brille haben wollen, aber das habe es natürlich nicht gespielt.

Zuerst besichtigen wir das von Ernst Fuchs entworfene Denkmal, mit den Namen von 217 aus Kobersdorf vertriebenen Juden. Die 2022 nach fast dreijährigen Planungs- und Sanierungsarbeiten wiedereröffnete Synagoge ist ein Gebäude im neuromanischen Stil. Wir bewundern das in Rindsleder geschlagene Eingangstor und staunen über die getrennten Eingangsbereiche für Männer und Frauen. Die Frauenempore in der Galerie war durch ein engmaschiges Holzgeflecht vom darunterliegenden Männerbereich abgetrennt, um ein nur allzu menschliches „Kokettieren“, wie es Herr Hausensteiner formuliert, zwischen jungen Männern und Frauen zu verhindern. Ein besonders strenger Rabbiner soll einmal stellvertretend für den angestammten aus der Tora gelesen und sich des Kobersdorfer Geflechts wegen empört haben, das seiner Meinung nach zu durchsichtig gewesen sei.

 

Anschließend besuchen wir den jüdischen Friedhof, der sich über einen sanft ansteigenden Waldhügel erstreckt. Es ist ein friedlicher Ort mit eigener Stimmung. Ich sondere mich kurz von der Gruppe ab und spaziere zwischen die Gräber. Inmitten der angehäuften Grabsteine gab es 2019 einen bemerkenswerten Fund: das Fragment eines Genisa-Grabes, in dem nicht mehr verwendbare liturgische Schriften bestattet werden. Dabei handelt es sich wahrscheinlich um das einzig bekannte Genisa-Grab in Österreich vor 1945. Markantes Detail ist das am Grabstein vermerkte Datum: Am 20. April 1938 wurden der Inschrift zufolge 13 Torarollen am jüdischen Friedhof in Kobersdorf begraben.

Wir bedanken uns bei Herrn Hausensteiner für den lebhaften Vortrag und spazieren weiter Richtung Gemeindeamt.

 

Station 4: Beim Kobersdorfer Bürgermeister

 

Mittlerweile macht sich leichter Kaffeeentzug bemerkbar und wir hoffen, im Gemeindeamt unsere Koffeinspeicher auffüllen können. Bürgermeister Andi Tremmel und Amtsleiter Stefan Puhr sind unsere Retter in Not, der Kaffee schmeckt ausgezeichnet. Es läuft gut in Kobersdorf. Gemeinderatssitzungen dauern hier meist nur eine Stunde, was auch an der Offenheit und Gesprächsbereitschaft des Bürgermeisters liegt, der sich auch an Sonntagen mit den anderen Fraktionen an einen Tisch setzt. Die Gemeinde, zu der auch Oberpetersdorf und Lindgraben gehören, zählt 2140 Einwohner, mit Nebenwohnsitzen an die 2500.

Es tut sich was, an die 80 Veranstaltungen hat man im Ort. Dazu zählen natürlich auch die Schlossspiele, die vor allem die Gastronomie beleben. Und man kümmert sich umeinander in Kobersdorf, zu den Angeboten zählen die Nachbarschaftshilfe Plus sowie eine kostenfreie psychosoziale Erstbetreuung.

 

Ein langer und erfüllter Tag neigt sich seinem Ende zu. Ein bisserl müde, aber reich an Eindrücken und mit bewegten Geschichten im Kopf treten wir die Heimreise an. Gerhard überlegt kurz, ist dann aber doch zu müde, das Navi neu zu programmieren und so kann ich meine Ortskenntnis doch noch unter Beweis stellen. Was für ein Tag!